Ein Plädoyer für die Ent-Personifizierung des Marktes

Was "der Markt braucht"...

Mit der Teilhabe an der Informationsgesellschaft ist es faktisch unmöglich, diese (oder eine ähnliche) Floskel nicht zu tagtäglich um die Ohren gehauen zu bekommen. Selbst die weniger Interessierten reden heute vom Markt und über den Markt, als sei er ein omnipräsenter Kumpel, der mit jedem Kleinkind schon im Sandkasten spielt. Im Namen des Marktes werden Argumente präsentiert und Pläne legitimiert. Egal ob Zeitung, Radio oder Fernsehen, der Markt steht für sich und mit der Wucht seiner Keule braucht es oft keine weiteren Erklärungen mehr.

Der Markt nähme Produkte an oder lehne sie ab. Er würde entscheiden, wie viel wir für diese Produkte bezahlen und er würde auch entscheiden, wie viel jedem einzelnen entlang der Wertschöpfungskette vom Geld bleibt. Er habe Wünsche und Bedürfnisse, die er an uns richtet und die wir befriedigen sollen. Erkennen wir eines seiner unerwünschten Bedürfnisse, dann müssen wir diese Chance ergreifen und möglichst "hart" daran arbeiten, diese Bedürfnisse zu erfüllen, dann würde der Markt sein Füllhorn über uns ausschütten.

Manche behaupten sogar, seinetwegen optieren wir für diese oder jene Partei. Wir wählen unsere Partner und Freunde nach seiner Logik aus (fairerweise gesteht er uns noch "Präferenzen" zu) und allen Fakten und Statistiken zum Trotz sorgt er für Gerechtigkeit in der Welt. Ach ja, Gerechtigkeit: Manche sagen Ihm das Gegenteil nach, aber der Markt ist im Grunde unfehlbar. Gelegtentliche Dysfunktion kann man Ihm attestieren, sofern man Ihm nicht seinen Raum zur Entfaltung gibt.

 

Der Markt hat uns und unser Umfeld in allen Bereichen erobert. Wir als Individuen und die Welt um uns sind Ihm untergeordnet oder haben sich Ihm unterzuordnen. Man spricht über ihn, als ob man neulich am Fußballplatz ein Bier mit Ihm getrunken hätte (Gleichzeitig hatte er draußen am Platz die Weichen für die nächsten Transfers gelegt). Als ob wir Ihn befragen und mit ins Boot holen könnten (Marktkommunikation wurde zu einem Berufsbild). Man verlässt sich auf den Markt, der wird's schon richten.

Sie finden das alles übertrieben? Seien Sie aufmerksam und hören Sie genau zu. In Nachrichten, Fernsehen, in der Arbeit, im Freundeskreis. Ganze Generationen haben vergessen, dass es niemals Märkte sind, mit denen wir interagieren, sobald wir bei der Haustür rausgehen oder den Computer einschalten. Denken Sie nur an Gespräche mit Arbeitskollegen: Von allen Seiten prasseln Forderungen auf uns ein, die "der Markt" an uns und unsere Arbeit stellen würde (Vertriebsleute tendieren besonders zur ständigen Argumentation im Namen des Marktes).

 

Was ist der Markt?

Es ist höchste Zeit, sich die Fakten wieder einmal in Erinnerung zu rufen: Der Markt ist ein gedankliches Konstrukt, das uns Menschen dabei helfen soll, komplexe Prozesse in einem für uns verständlichen Modell darzustellen. Es ist eine vom Menschen erdachte Erfindung. Ein Werkzeug, dessen wir uns bedienen dürfen. Mathematisch gesprochen ist der Markt ein Optimierungsprozess. Um seine Funktion darstellen zu können braucht es klare, konstante Bedingungen. Man erinnere sich: "f(x)=k*x+d" gilt in jedem ökonomischen Lehrbuch für Angebots- und Nachfragefunktion.

Dass es den Menschen im vollständigen Sog von radikalen, marktorientierten Denk- und Realitätskonzepten nicht besonders gut gehen kann, ist verständlich. Umdenken und Einlenken im großen Stil hin zu (oder zurück zu) humaneren und verständlicheren Ideen ist nicht erkennbar, obwohl es der ökonomischen Fachwelt nicht an kritischen Stimmen und neuen Ideen mangelt (siehe unten) und sich immer mehr junge Ökonomen offen gegen die verstaubten, teils schon lange überholten Theoriegebilde des vergangenen Jahrhunderts stellen (siehe Manifest gegen die Krise der Ökonomie).

 

Mit der vollständigen Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat sich der Mensch ein Monster erschaffen, dem er scheinbar nicht mehr Herr wird. Vergleiche zu den Filmen Terminator und Matrix bieten sich an. Fakt ist: Das Gros der Menschheit auf diesem Planeten leidet in bitterer Not unter der Knechtschaft des Marktes während es die oberen paar Prozent in den Einkommens- und Vermögensstatistiken vor lauter Geld eigentlich bald zerreißen müsste. Der mittleren Bandbreite (zu jener ich mich zähle) wird mit jedem Tag etwas mehr das Wasser abgegraben und trotz systematischer, marktgetriebener Selbstausbeutung zählen sich auch hier paradoxerweise noch immer die meisten zu den Gewinnern - es ist ja durch den Markt legitimiert! Und den hat man ja schon befragt, seine Bedürfnisse studiert, ihn bedient, bearbeitet, auch sonst auf jede erdenkliche Art in in die Mangel genommen.

Ich persönlich habe meinen kleinen persönlichen Kreuzzug gegen den Markt als Person schon begonnen: Jede Aussage "der Markt macht/will/kann/etc..." begegne ich grundsätzlich mit Skepsis und der anschließenden Frage, ob man mir den Markt nicht noch ins Büro vorbei schicken würde, dann könnte ich endlich ein paar offene Fragen mit ihm persönlich klären.

 

Literatur zum Thema:

• Boldeman, Lee - The Cult of the Market - Economic Funcamentalism and its Discontents (2007)

• Fullbrook, Edward - A Guide to what's wrong with Economics (2004)

• Stiglitz, Joseph - The Roaring Nineties: A New History of the World's Most Prosperous Decade (2004)

• Ötsch, Walter Otto - Mythos Markt: Marktradikale Propagana und ökonomische Theorie (2009)

• Hamburger Appell (LINK)