Rücksicht und Respekt - Warum wir vor der eigenen Türe kehren sollten

Dieser Tage gehe ich grübelnd durch die Welt. Nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den jüngsten Attentaten in Paris stelle ich mir selbst viele Fragen darüber, wie das Zusammenleben in den europäischen Gesellschaften heute tatsächlich gestaltet ist. Von den Werten, die politische Kleingeldsammler oft und gerne proklamieren, ist da oft die Rede. Schlagworte wie "Respekt" und "Rücksicht" fallen in diesem Zusammenhang. Im aktuellen medialen Echo stehen diese Begriffe meist (aber nicht ausschließlich) im Zusammenhang mit Glaubensfragen, aber manche unter den vielen Kommentatoren erkennen, dass die eigentliche Sache tiefer liegen könnte. Wenn im politisch-medialen Diskurs (meist von rechts) allzu leichtfertig die Respektskeule gegenüber "denen" geschwungen wird, die sich nicht ohne Respekt an "unsere" Werte halten, dann frage ich mich oft, ob "wir" - das heißt, vorwiegend wir Österreicher; im größeren Maßstab aber alle Europäer - nicht allzu oft Wasser predigen, aber Wein trinken.

 

Momentan diskutieren Politik und Medien Aspekte rund um Glauben und seine Ausübung. Das ist gut und notwendig.  Dennoch sehe ich darüber hinaus schon ein viel elementareres Problem, das weniger mit Glauben, Ethnie oder Hautfarbe zu tun hat. Viele kleine Beobachtungen aus dem Alltag zeigen mir, dass es schon im Kleinen ganz gravierende Probleme mit gegenseitigem Respekt und mit der Rücksicht gibt. Ich finde, es ist höchste Zeit ist, vor der eigenen Haustüre zu kehren!

 

Rücksichtslosigkeiten im Alltag

Dazu einleitend eine kleine Anekdote vom letzten Spaziergang zum Supermarkt gleich ums Eck: Mit dem vollen Mistsackerl in der Hand traf ich neulich auf eine Nachbarin im Stiegenhaus. Sie hatte auch ein Mistsackerl in der einen Hand, PET-Flaschen in der anderen. Sie entsorgte beides sorglos im Restmüll. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die PET-Flaschen zusammenzudrücken. Das scheint bei uns im Haus auch Usus zu sein, denn ein kurzer Blick in die Mülltonnen zeigt, dass viele Mieter nur eine Kategorie Müll kennen und Plastikflaschen, Tetrapacks und Dosen grundsätzlich nicht zusammendrücken. Manchmal quellen schon einen Tag nach Entleerung die Restmülltonnen wieder über, dabei stünden Gelbe Tonne, Altglas und Metallcontainer keine 50 Meter die Straße hinauf.

Ein wenig später im Supermarkt sehe ich überall nicht gewollte Produkte, die einfach ins nächst beste Regal gestellt wurden. Selbst Aufschnitt und Tiefkühlprodukte stehen plötzlich bei Nudeln oder Kosmetikprodukten; Tiefkühlschränke, deren Schiebetüren sperrangelweit offenstehen. An der Kasse eine kurze Schlange, hinter mir eine Pensionistin, die mir ihren Einkaufswagen ins Kreuz drückt und schrill über zehn Köpfe hinweg ruft: "Kasse aufmachen!". Das passiert ein wenig später auch und während ich stehen bleibe, weil es mir zu blöd ist, hetzt ein ganzer Pulk von Wartenden vor und hinter mir zur Kasse gegenüber. Keine zwei Minuten später komme ich zum Kassenband, davor liegen wieder Produkte, die hier nicht hingehören.

 

Ähnlich verhält es sich jedes Jahr mit den vielen Festivalbesuchern, denen es scheinbar zu viel Mühe ist, den eigenen Müll nach dem Fest wieder mitzunehmen. Neben dem ökologischen Aspekt, der uns alle betrifft, sind hier in erster Instanz vor allem die Grundbesitzer die Leidtragenden. Bei öffentlichen Veranstaltungen ist es wiederum die Allgemeinheit, die über Steuergelder die Reinigung bezahlt.

 

Warum fällt es vielen Menschen so leicht, sich rücksichtslos zu verhalten? Eine soziologische Erklärung könnte wie folgt aussehen: Gemeinhin bekannt ist, dass es uns Menschen leichter fällt Unrecht zu tun oder für andere zumindest unvorteilhaftes Verhalten zu setzen, wenn wir die Betroffenen nicht persönlich kennen oder uns ihre Identität ganz und gar unbekannt bleibt. Im gesellschaftlichen Zusammenleben ist dies meist der Fall. Denken wir an das Beispiel einer großen Parklücke, in der leicht zwei Fahrzeuge Platz hätten: Wie oft gehe ich durch städtisches Gebiet und ärgere mich über jene, die so parken, dass ja nur kein anderes Auto davor oder dahinter mehr Platz hat. Vom Balkon meiner Wohnung aus kann ich solch rücksichtsloses Verhalten täglich beobachten. Der oder die Leidtragenden sind den Verursachern nicht bekannt. Viel mehr noch, die egoistischen Parker könnten der Illusion erliegen, dass es überhaupt keine Leidtragenden gibt, zumal es auch keine sichtbaren Hinweise und auch keine Konsequenzen für ihr Falschverhalten gibt. Mit www.youparklikeanasshole.com/ widmet sich übrigens eine ganze Website dem Phänomen "Arschloch-Parker". Vordrucke machen das "Shaming" der Verursacher leicht (wie wahrscheinlich diese dadurch ihr Verhalten ändern werden, steht hier nicht zur Debatte).

 

Sollte man in Verlegenheit kommen, die Verursacher direkt auf ihr Fehlverhalten anzusprechen, ist die Argumentation oftmals bekannt: Selbst Schuld, wer sich nicht auch rücksichtslos verhält. Zum Verlierer wird man, so die Logik, indem man selbst Rücksicht nimmt und durch andere damit klarerweise ausgenutzt wird.

 

Rücksicht und Respekt im großen Maßstab und die Frage nach der Schuld

Aus dem eigenen Umfeld höre ich manchmal, dass Menschen in prekären Situationen grundsätzlich selbst an ihrer Misere schuld wären. In meiner Verwandtschaft ist eine solche Aussage deshalb so bemerkenswert, weil sich im Gegensatz zu mir die meisten Familienmitglieder stark in der Tradition einer sozialistisch geprägten Arbeiterschaft sehen. Solchen Geistes Kinder scheren sich nicht z.B. auch nicht groß darum, woher die Produkte stammen, die in den hiesigen Regalen stehen und unter welchen Bedingungen sie produziert werden. Das ist, zumindest in meiner Familie, auch so. Aber man findet sich in breiter Gesellschaft. Um Kinder in Südostasien, die billige Kleidung und Accessoires nähen, kümmert sich in der industrialisierten Welt so gut wie niemand. Genauso geht es den Menschen in anderen Entwicklungsländern, die ohne Schutzausrüstung hochgiftigen Dämpfen ausgesetzt sind, wenn sie mit Lötbrennern Elektronikschrott aus Europa "recyceln".

 

Darüber hinaus steht es wahrlich schlecht mit dem Zusammenleben und den viel strapazierten "christlichen Werten", nach denen Hilfsbereitschaft einen hohen Stellenwert hätte. Erst neulich starb ein Mann im Lift der Wiener U-Bahn nach einem Herzinfarkt, weil niemand geholfen hatte. Passanten fuhren mit dem leblosen Körper einige Stunden auf und ab, in der Sicherheitszentrale unternahm niemand etwas. Die Anzahl der vom Staat Österreich aufgenommenen syrischen Kriegsflüchtlinge ist beschämend klein und in den Bundesländern bemüht sich seit Jahren keiner darum, adäquate Unterkünfte zu finden. Wen wundert es? Gemäß aktueller FPÖ-Rhetorik sind vertriebene Syrer "Höhlenmenschen", und mit solchen Aussagen schafft es diese Partei, etwa ein Drittel der Wählerschaft an sich zu binden.

 

Hinter all den kleinen Respektlosigkeiten - aber auch hinter den Grauslichkeiten im großen Stil - stecken aus meiner Sicht zwei essentielle Denkmuster, die ich immer wieder beobachte: Erstens, viele Menschen  glauben, grundsätzlich immer zu kurz zu kommen. Dies führt zu zweitens, viele Menschen gönnen Anderen meist aus Prinzip nichts. Nicht einmal ein Dach über dem Kopf und ein menschenwürdiges Leben.

 

Rücksichtslosigkeit als Folge einer Ideologie?

Noch einmal frage ich: Warum verhalten sich Menschen so? Damit zu meiner eigentlichen These und einem Erklärungsversuch, der sich am politischen und wirtschaftlichen Zeitgeist orientiert. Es gilt als bewiesen, dass sich seit den frühen 1980er-Jahren in ganz Europa wieder vermehrt wirtschaftsliberale Ideen und Werte durchsetzen. Das grundsätzliche Bekenntnis zur Marktwirtschaft ist heute durchaus politischer Konsens quer über (fast) alle Parteien in Europa. In einem freien Marktgefüge stehen Akteure miteinander im Wettbewerb und innerhalb definierter Rahmenbedingungen ist es jedem Marktteilnehmer erlaubt, Strategien zu entwickeln und Maßnahmen zu ergreifen, welche zum eigenen Vorteil gereichen. (Man beachte: Auch unter radikalsten Marktbedingungen werden aber staatliche Schranken gesetzt. Eigentumsrechte und das Strafgesetz definieren immer die äußersten Grenzen des Legalen).

 

Wesentlich ist hier die Abgrenzung des Begriffs "Akteure". Unternehmen, ob nun öffentlich oder privat, zählen unbestritten zur Gruppe der Wirtschaftsakteure. Sie beschäftigen eine Unzahl an Strategen und Managern, die sich allesamt hauptberuflich mit Fragen des Wettbewerbs und der Generierung von Vorteilen beschäftigen. In einem marktwirtschaftlichen Kontext sind sie eine logische Konsequenz, denn das Streben nach dem wirtschaftlichen Vorteil ist hier systemimmanent. Das allgemeine Bekenntnis zur marktorientierten wirtschaftlichen Steuerung ist für mich kein Problem per se, allerdings fällt auf, dass Marktlogik immer stärker auch in soziale und sogar private Sphären eindringt. Je weiter ich den Akteursbegriff also fasse, desto eher komme irgendwann zu der Frage, wie Menschen innerhalb dieses Rahmens zueinander stehen.

 

Menschen - soziale Wesen oder Marktakteure?

Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir als soziale Wesen nicht zwangsläufig den homo oeconomicus in uns tragen. Zu Marktakteuren wurden wir im Laufe des letzten Jahrhunderts im ökonomischen Diskurs einfach umkonstruiert. Im rein individualistischen Menschenbild einer libertär-liberalen Weltanschauung werden Menschen ganz einfach zu Marktakteuren erklärt und gemäß der Logik des Marktes stehen wir urplötzlich (wie durch eine "unsichtbare Hand" geleitet) zueinander im Wettbewerb. Dieses Menschenbild wurde schon von frühen Denkern der österreichischen Schule der Nationalökonomie gepflegt (z.B. Mises, Hayek), und ist mit dem Revival dieser Denkschule seit den 1980ern nun endgültig im (gesellschafts-)politischen Mainstream angekommen. Marktradikale und neoliberale Hardliner werden an dieser Stelle wohl einwenden, dass Menschen ohnehin schon immer Marktakteure waren, die Entdeckung dieser Anschauung einfach nur später erfolgte (vielleicht in Analogie zur Schwerkraft: Auch vor der Entdeckung und Beschreibung durch Newton fielen Dinge schon zu Boden).

 

Die Klassen- und Schichtenmodelle aus sozialistischen Denkschulen sind heute wohl obsolet. Das ist auch gut so, denn sie sind nicht mehr zutreffend (sofern sie das je waren?). Schichten und Klassen mögen sich über willkürliche statistische Parameter vielleicht erfassen lassen, die resultierenden Gruppen sind aber ineinander viel zu heterogen, als dass man von einer repräsentativen Gruppe/Schicht/Klasse sprechen könnte. Bis heute habe ich zum Beispiel keine befriedigende Definition zur "Mittelschicht" gefunden. Weder Einkommen, Wahlverhalten, geografische noch andere demografische Faktoren taugen dazu, die soziale "Mittelschicht" ausreichend homogen darzustellen. Außerdem, was hilft es denn, eine gesellschaftliche Klasse zu definieren, wenn alle sich alle darin im Wettbewerb empfinden? Zurück zu meiner These: gravierende Konsequenzen auf unser gesellschaftliches Zusammenleben - zumindest in Gesellschaften, die auf keine nennenswerte liberale Tradition zurückblicken.

 

Man mag hier versucht sein, mir anhand meiner obigen Analyse eine antiliberale Haltung nachzusagen. Tatsächlich hatte mir ein Arbeitskollege einst unterstellt, ich sei ein Sozialist. Das stimmt gewiss nicht. Dennoch verstehe ich den Vorwurf, denn er basiert auf einem oft begangenen Denkfehler einer neoliberalen Argumentation, in dem gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Sphären einfach in einen Topf geworfen und vermischt werden. Gesellschaftspolitischer Liberalismus als Geisteshaltung und Lebenseinstellung ist für mich ein erstrebenswertes Ideal. Er ist eine der wichtigsten Errungenschaften seit der Aufklärung. Tatsächlich könnten wir uns meiner Überzeugung nach viel weltweiten Wahnsinn sparen, hätten liberale Ideen im gesellschaftlichen Leben ein breiteres Standbein in der Welt und ihrer Geschichte. Gleichzeitig ziehe ich aber eine sehr scharfe Grenze zwischen dem wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Leben. Was der einen Sphäre gut tut, kann in der anderen fatal wirken. Die Ausweitung des Marktbegriffs (Wirtschaftsliberalismus) auf unser gesellschaftliches Zusammenleben ist ein exzellentes Beispiel. Wirtschaftliche Vorgänge sollten stets innerhalb eines legalen Rahmens stattfinden, welchen die Politik (legitimiert durch die Gesellschaft) in Form von Gesetzgebung definiert. Wirtschaft ist somit der Politik und Gesellschaft systemisch und hierarchisch untergeordnet.

 

Wir erleben heute aber die Umkehr dieser Ordnung, die sich mitunter in Sätzen wie "Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut" manifestiert. Mark Twain sagte: "Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten". Er hatte Recht, denn Instrumente und Werkzeuge der klassischen Ökonomie halten heute als Erklärungsansätze für jedwede Problemstellung her - ob in der Wahlkabine, im Supermarkt oder bei der Arbeitssuche. Gleichsam begreifen wir uns als Menschen immer stärker als isolierte Einheiten. Werbung ist hier ein guter Indikator. Individualität wird verkauft, das eigentliche Produkt interessiert nur wenige. "Sei-dir selbst-der-Nächste-Mentalität" wurde bei Saturn mit "Geiz ist geil" lange Zeit zum Motto erhoben und bei Media Markt wird jeder zum Trottel erklärt, der dort nicht einkauft. Wie passt das jetzt mit Wettbewerb zusammen? Haben Sie sich jemals gut gefühlt beim Gedanken, für ein vergleichbares Produkt weniger bezahlt zu haben, als Ihr Bekannter? Schon einmal Halbwüchsige in öffentlichen Verkehrsmitteln bei der Diskussion um das neueste Smartphone, die besten Accessoires oder blutigsten Konsolenspiele beobachtet? Wehe, wer mir sagt, das seien keine Popularitätswettbewerbe. Alles Kinderei, sagen Sie? "Mein Haus, mein Auto, mein Pferd" - Was Kids können, können Erwachsene schon lange!

 

Wozu führt nun der ständige Wettbewerb? Was viele nicht bedenken, ist, dass es in Wettbewerben zwangsläufig viele Verlierer gibt. Schon per Definition muss aus jedem Wettbewerb EIN Bester oder EINE Beste hervorgehen. Eine Analogie: Die Anzahl der ex aequo-Platzierungen bei sportlichen Wettbewerben ist überschaubar und selbst hier stehen höchstens zwei Gewinner einer Schar von Verlierern gegenüber. Schon Marx sah eine Konzentration zu einem Oligopol mit wenigen Großen vorher, und wer den österreichischen Lebensmittelhandel kennt, soll mir doch bitte erklären, wo sich die vielen Gewinner verstecken. Ähnlich verhält es sich im gesellschaftlichen Kontext, wenngleich mit noch viel schlimmeren Folgen. Ich komme zu meiner These zurück und behaupte, der Wettbewerb, den wir uns als Gesellschaft auferlegt haben, bringt spätestens seit den 1980er-Jahren immer mehr Verlierer hervor. Stagnierende Reallöhne seien hier nur ein Beispiel (genau heute, am 19.01.215 hat übrigens die internationale NGO Oxfam erneut darauf hingewiesen, dass nur 1% der Reichsten der Erde etwa 50% des Wohlstands besitzen).

 

Fazit

Was ist mein Punkt? Wer verliert, wird versucht sein, seine Situation oder Stellung zu verbessern. Passiert dies im großen Maßstab, sind vermehrte Rücksichtslosigkeit und gewiss ein Stück weit auch Verrohung eine logische Konsequenz. Unter Wettbewerbsbedingungen passiert dies besonders in Bereichen, in denen mit keiner Sanktionierung zu rechnen ist oder keine sonstigen Nachteile für einen selbst zu erwarten sind. Wirtschaftsliberalismus und Marktlogik haben sich als Denkschulen so weit in Politik und Gesellschaft fortpflanzen können, dass wir uns im konstanten Wettbewerb zueinander empfinden. Das hat fatale Folgen für die soziale Kohäsion. Es entsteht wohl vielfach der Eindruck, dass nun alles, was im wirtschaftlichen Wettbewerb erlaubt ist, plötzlich auch im gesellschaftlichen Maßstab okay sei. Dem ist gewiss nicht so. Mit der dieser Freiheit, der liberalen Grundhaltung, geht eine Verantwortung einher, die nicht besser beschrieben werden könnte als mit Kants Kategorischem Imperativ.

 

Wie sieht es im Vergleich in Gesellschaften mit liberaler Tradition aus? Kommen wir Mitteleuropäer (hier besonders Österreicher) möglicherweise einfach nicht mit liberalen Ideen zurecht? Fehlt uns die politische und gesellschaftliche Kinderstube, um mit der gewonnenen Freiheit umzugehen? Ein Blick in den angelsächsischen Raum bietet sich an. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Zuvorkommenheit und das Respektieren von persönlichen Grenzen dort einen größeren Stellenwert hat, als in Mitteleuropa. So abgedroschen es auch klingt, aber es beginnt schon beim obligatorischen "Queueing" vor Kassen, vor Türen, vor Eingängen oder auch beim Ein- bzw. Aussteigen im Bus, Bahn, Flugzeug. "Sorry" und "Excuse me" gehören zum britischen Standardrepertoire in Situationen, wo nach mitteleuropäischem Maßstab höchstens ein kühles "steh nicht im Weg" fällig ist. Schmunzelnd erinnere ich mich an ein Erlebnis im Dubliner Bus: Ich hatte den Haltewunsch-Knopf eine Station zu früh gedrückt und als der Bus dann hielt, ich aber keine Anstalten machte, auszusteigen, richteten sich sämtliche Augenpaare auf mich. Scheinbar wartete jeder im Bus auf meine Reaktion (die nicht kam). Nach gefühlten fünf Minuten fuhr der Bus weiter. An der nächsten Haltestelle musste ich nun wirklich raus und der Busfahrer warf mir ein verärgertes "Don't you say sorry?" hinterher. In der Tat eine unangenehme Situation, aber ausgelöst durch mein nicht-konformes Verhalten. Jeder im Bus hatte verstanden, dass ich zu bald den Halteknopf gedrückt hatte und die Erwartungshaltung war, dass ich mich dafür entschuldige. Das war nicht passiert. In meiner Heimatstadt wäre es geradezu absurd, sich für einen falschen Haltewunsch beim Fahrer und den anderen Fahrgästen zu entschuldigen.

 

Zugegeben, meine zuletzt angeführten Beispiele sind Anekdoten und basieren zumindest teilweise auf Stereotypen. Dennoch haben gerade allgemeine Stereotypen oft mehr Relevanz, als man ihnen zuschreiben will. Sie entstehen nicht von heute auf morgen und basieren nicht auf einer Einzelerfahrung. Ich behaupte: Dort, wo die Freiheit des Individuums seit Generationen großgeschrieben wird, hat man dem Individuum auch beigebracht, dass beim Ausüben dieser Freiheiten auch die Freiheiten der anderen (und damit die eigenen Grenzen) zu respektieren sind. Dies wird besonders in europäisch-liberalen Gesellschaften offensichtlich. Diese Tradition fehlt – ganz besonders den Österreichern.

 

Mein Versuch, diese Attitüde in einem sehr österreichischen Satz zusammenzufassen: "Wenn's nicht in Ordnung wäre, dann wär's ja auch verboten." – Eine wahrlich fürchterliche Aussage, die man einem liberalen Geist nicht zumuten sollte.